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    23. Dezember

    Die Weihnachtsgeschichte zum Tag vor Heiligabend hat Frank Merken geschrieben.

    Das Parkplatzwunder

    Die Zeit vor Weihnachten war wie jedes Jahr sehr turbulent verlaufen. Endlich war der 23. Dezember gekommen.  Kurz nach 16 Uhr hatte die Bibliothek ihre Pforten geschlossen und würde auch erst wieder im neuen Jahr den regulären Betrieb aufnehmen. Auf dem Weg nach draußen wehte mir eine ordentliche Portion Wind entgegen. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde. Weil mir aber für das Weihnachtsessen noch Mascarpone zum Tiramisu fehlte und ich es nicht auf die übliche Schlacht am Kühlregal an Heiligabend ankommen lassen wollte, musste ich wohl oder übel noch zu Rewe auf der Breiten Straße. Mühevoll bekämpfte ich den Gegenwind in der Bahnhofstraße. Meine Anstrengungen waren von Erfolg gekrönt und zum Mascarpone gesellten sich noch ein paar leckere Feinkostartikel, die beinahe wie von selbst in meinen Einkaufswagen gehüpft waren.

    Jetzt galt es nur noch den langgezogenen Parkplatz am Bahndamm zu überwinden, und dann erwartete mich ein molliges warmes Zuhause, wo ich mir zuerst mal einen Tee Marke "Kaminfeuer" aufgießen würde, verfeinert mit einem Stück Dresdner Christstollen und akustisch unternalt mit dem "Messias" von Georg Friedrich Händel. Als ich gerade den Treppenabgang zur Ludwigstrasse passiert hatte und die Treppe zum Grünen Weg ansteuerte, flaute der starke Wind urplötzlich ab. Ein Moment uferloser Stille trat ein. Ich wähnte mich in einer Idylle von Eichendorfs "Markt und Straßen" und hatte schon "Unto us a child is born" aus dem „Messias“ im Ohr. Da erreichte dieselben so ein Wimmern. "Meine Güte, wer hat denn da ein Kätzchen ausgesetzt" schoss es mir durch den Kopf. Das Wimmern kam aus einem Pappkarton in einer Parkplatzeinbuchtung auf der, dem Güterbahnhof zugewandten Seite. Da konnte ich doch nicht einfach so meinen Heimweg fortsetzen, zumindest musste ich nachschauen; vielleicht auch das Kätzchen aus seinem Gefängnis befreien. Als ich mich jedoch dem Karton näherte und die beiden Deckel öffnete, staunte ich Bauklötze. "Oh mein Gott" entfuhr es mir. Das leise Wimmern kam gar nicht von einer Katze. Das sah eindeutig nach einem Baby aus. "Wer macht denn so etwas? Das darf doch nicht wahr sein!"

    Ich musste erst mal gegen den Schock ankämpfen und überlegen, was ich denn jetzt machen sollte. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, wo sonst immer unzählige Gassigänger mit ihren Vierbeinern flanierten. Immerhin war das Baby in eine bunte Decke eingewickelt und somit doch ein klein wenig vor Kälte geschützt. Schnell zückte ich mein Handy und wählte die "112". Die Stimme, die sich meldete, werde ich niemals vergessen. Zuerst haspelte ich vor mich hin. Doch dann konnte ich präzisere Angaben machen. Bis der Rettungswagen eintraf, verging eine gefühlte Ewigkeit. Ich stand da auf dem Parkplatz wie gebannt und drückte den Karton ganz nah an mich, um das neugeborene Kind vor der Kälte des Dezemberbodens zu schützen. Nur widerwillig übergab ich den Rettungsleuten den Karton, aber ich durfte mit ins Krankenhaus fahren. Erst sehr spät abends kam ich nach Hause, wo Tee, Stollen und Händel brav auf mich warteten.

    Das ist jetzt über zwanzig Jahre her. Während jedoch vieles mittlerweile in Vergessenheit geraten war, blieb die Erinnerung an dieses Ereignis hellwach. Jedes Jahr kommt mein Patenkind Christina - das Parkplatzwunder - am 23. Dezember bei mir vorbei. Wir trinken Kakao zusammen, mümmeln Spritzgebäck und erzählen um die Wette. Auch immer wieder von jenem windig kalten Dezembertag so kurz vor Weihnachten und vom Wunder des Lebens. Und alle anderen Bewohner im Seniorenwohnheim lauschen uns gespannt und voll ergriffen zu.

    Die Mutter von Christina konnte übrigens nie ermittelt werden.