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    19. Dezember

    Vielleicht besitzt die folgende Geschichte von Frank Merken ja einen kleinen Anteil an einem echten Erlebnis.

    „Das Mädchen aus der Eisengasse“

    Die kleine Anna mochte Geschichten und wäre am liebsten jeden Tag nach der Schule sofort in die Stadtbibliothek gelaufen. Dort waren die Regale voll mit Büchern, die wunderschöne Erzählungen enthielten. Aber das erlaubte ihre Mutter nicht. "Was willst du mit diesem überflüssigen Zeug" waren häufig ihre Worte. Es ging Anna so wie Matilda in ihrem Lieblingsbuch von Roald Dahl. Doch manchmal konnte sie ihre beste Freundin Eva in die Bibliothek begleiten. Das war wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen. Und Eva lieh ihr auch schon mal ein Buch aus. Das durfte Annas Mutter aber nicht wissen. Und die freundlichen Mitarbeiter in der Bibliothek auch nicht.

    Nun kam wieder die Vorweihnachtszeit und es wurde schon um 16 Uhr dunkel. Da zog es Anna an manchen Nachmittagen in die Eisengasse der Andernacher Altstadt. Durch die beleuchteten Fenster konnte sie dem lebendigen Treiben in der Kinderbibliothek zusehen. Nur zu oft drückte sie ihre Nase an die beschlagenen Fenster der Bibliothek. An besonders kalten Tagen musste sie erst einmal die Eisblumen mit ihren warmen Händen verscheuchen. Und Anna fühlte sich wie Aschenbrödel aus ihrem Lieblingsfilm und manchmal auch wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Wenn es ihr zu kalt wurde, bekam sie im Atelier eines talentierten Kunstmalers am unteren Ende der Eisengasse einen warmen Kakao und durfte ihm beim Malen über die Schulter schauen. So toll würde sie auch gerne malen können. Dabei hatte sie ja auch ein Talent, wofür ihre Eltern jedoch nicht das Geringste übrig hatten. Anna konnte wundervolle Geschichten schreiben. Und ihrer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.

    In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember streute der Sandmann besonders viel Sternenpulver über Annas Zimmer aus. Sofort nach dem Einschlafen träumte sie von einer Nikolausmafia, die allen Kindern dieser Erde die Süßigkeiten stibitzten und stattdessen Sand in die rausgestellten Schuhe füllten. Im zweiten Traum fand sich Anna in einer rauschenden Nikolausparty in der Bibliothek wieder. Michael Ende und Astrid Lindgren debattierten um die Wette über die Zukunft von E-Books. Pippi Langstrumpf verteilte mit Karlsson und Michel leckere Brause aus dem Limonadenbaum an die Kinder. Lieselotte und Mama Muh buken mit der Krähe zusammen Weihnachtsplätzchen zur Musik von Rolf Zuckowski. Mit dem Bücherexpress fuhren Jim Knopf und sein Kumpel Lukas, der Lokomotivführer, und Frau Malzahn von Regal zu Regal, wo die Bücher einer Feuertaufe standhalten mussten. Zur Sicherheit Grisu, der kleine Drache, im Schlepptau. Der Grüffelo und die Maus legten ihre Lieblingsscheiben auf, zu denen die Kinder munter tanzten. Der Nikolaus saß in einem gemütlichen Ohrensessel und erholte sich von den Strapazen seiner nächtlichen Einsätze, während die Rentiere heimlich Grog tranken und Gras rauchten. Da ertönte ein helles Glöckchen und Anna wurde jäh aus ihrem wunderschönen Traum gerissen.

    Weil die Erinnerung daran noch so frisch war, hielt Anna in der Deutschstunde ihre nächtlichen Erlebnisse in einem Aufsatz fest. Ihre Lehrerin war vollauf begeistert und reichte mit Annas Einverständnis die Geschichte an die Stadtbücherei weiter, wo diese beim monatlichen Vorlesen zum Einsatz kam.

    Was aus Anna geworden ist? Eine erfolgreiche Kinderbuchautorin, die mit ihren märchenhaften Geschichten Millionen Kinder glücklich macht. Und wenn sie ihre demenzkranke Mutter im Heim besucht, erzählt sie ihr immer wieder die Geschichte von dem Mädchen aus der Eisengasse, welches sich seine Nase an den Fenstern der Bücherei fast platt drückte.